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Tagungsbericht vom 29. Symposium 18.–20. Mai 2023 in Warschau "Hospitals in times of crisis"

von Lea Münch, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin

Die Konferenz wurde von der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte (DGKG), dem International Network for the History of Hospitals (INHH) und der Uniwersytet Warszwaski gemeinsam organisiert. Die Kooperation in dieser Konstellation ist ein Novum und ermöglichte es, sich der Geschichte des Krankenhauses in einem chronologisch und geographisch weiten Spektrum und mittels vielfältiger methodischer Ansätze zu nähern. Im Zentrum stand die Frage nach dem Krankenhaus in Krisenzeiten.

29 Symposium 2023 Warschau Tagungsimpressionen1Der Begriff der Krise wurde epochenübergreifend in seinen verschiedenen Bedeutungsfeldern abgedeckt. Diese reichten von der ursprünglichen, antiken Bedeutung als Entscheidungs- oder Wendepunkt des Verlaufs einer Krankheit bis hin zu der breiten Übertragung auf eine persönliche oder gesellschaftlich-politische Ebene im modernen Sinn. In der Eröffnungsansprache der Konferenz zeichnete Fritz Dross (DGKG, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) einleitend diesen Bedeutungswandel nach. Er betonte das Verständnis von Krise als den Moment im Krankheitsverlauf, in dem nicht mehr Ärzt*innen, sondern die Natur über den Ausgang entscheiden, in Abgrenzung zu der Entscheidung einer Gesellschaft, auf verschiedene Krisenphänome mit der Institution des Krankenhauses zu antworten. Michał Kopczyński (Uniwersytet Warszwaski) hob den damit zusammenhängenden Erwartungsdruck hervor, den Krankenhäuser insbesondere in Krisenzeiten ausgesetzt sind. Eine historische Perspektive könne auch den Blick für gegenwärtige Probleme und eine bessere Gesundheitsversorgung schärfen. Barry Doyle (INHH, University of Huddersfield) verortete die Konferenz in den gegenwärtigen Bestrebungen Krankenhausgeschichte verstärkt international auszurichten und zu vernetzen.

Das erste Panel thematisierte politische Krisen und Krankenhäuser. Yannis Gonatidis (University of Crete) stellte die multiplen Krisen des Krankenhauses in Hermoupolis dar, das im 19. Jahrhundert auf enorme demographische Herausforderungen reagieren musste. Das rudimentäre Krankenhaus entwickelte sich von einer Anlaufstelle für Flüchtlinge infolge eines rapiden Bevölkerungswachstums zu einer zentralen Versorgungseinrichtung. Shravasti Pathak (University of Burdwan) sprach über die Rolle der bengalischen Ärzteschaft im Campbell Hospital and Medical School in Bengal, das von der britischen Kolonialmacht zur Versorgung der lokalen Bevölkerung eingerichtet wurde. Wenngleich damit die westliche Medizin eine „neue Heimat“ in der Kolonie gefunden hatte, leistete es gleichzeitig einen Beitrag zum „Indian National Movement“. Axel Hüntelmann (Charité Berlin) analysierte ausgehend von einem staatlich intendierten Prüfbericht des Krankenhauses der Charité 1921 die Ursachen, die zu einer generellen Krise führten. Er schilderte die Auswirkungen des ersten Weltkrieges auf Patient*innen und Ärzt*innen und stellte den Strukturwandel in den Zusammenhang von Ökonomisierungsprozessen im Krankenhaus.

Das zweite Panel deckte die Themen Krieg, Epidemien und psychiatrische Krankenhäuser ab. Olga Gaidai (Petro Mohyla Black Sea National University Mykolaew, Ucraine/University of Warsaw, in Zusammenarbeit mit Tadeusz Srogosz, University of Częstochowa) beleuchteten logistische organisatorische Probleme der Lazarette während des napoleonischen Russlandfeldzuges „polnischer Krieg“ (1806-1807). In kürzester Zeit wurde ein Netzwerk von permanenten Krankenhäusern und mobilen Lazaretten hinter der Front zur Versorgung verwundeter Soldaten geschaffen. Iva Milovan Delić (University of Pula) und Katarina Keber (Slovenian Academy of Sciences and Arts) untersuchten vergleichend die Rollen des Pula Provincial Hospital und Ljubljana Provincial Hospital bei der Behandlung der Spanischen Grippe 1918/19. Die Ergebnisse hinsichtlich Verlauf und Sterblichkeit decken sich mit den bisherigen Kenntnissen in Europa. Sie hoben die Bedeutung einer konstanten Pflege im zeitgenössischen medizinischen Diskurs hervor, die beide Institutionen nur bedingt gewährleisten konnten. Claire Deligny (University Paris Nanterre) analysierte die zeitgenössischen, divergierenden Interpretationen der steigenden Zahl von Geisteskraken an drei psychiatrischen Institutionen Großbritanniens am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese institutionelle Krise verband sich mit einer tieferen kulturell-gesellschaftlichen Krise: Die Ansichten über das Wesen von Geisteskrankheiten und deren institutionelle Behandlung entwickelten sich in Richtung eines deterministischen Umgangs. Kelly Adamson (Dublin City University) thematisierte die Anwendung der drei somatischen Therapien Tiefschlaf-, Insulinkoma- und Elektrokonvulsionstherapie in den Jahren 1939-1950. Vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit im Zweiten Weltkrieg analysierte sie den Einfluss der Therapien auf den Alltag von Patient*innen und Ärzt*innen.

Der Nachmittag bot Raum für eine architektur- und institutionengeschichtlich fundierte Führung über den Campus der 1816 am Rande der Altstadt gegründeten Warschauer Universität, deren älteste Bausubstanz bis ins 17. Jahrhundert reicht. Die Führung schloss u.a. die Besichtigung der alten Universitätsbibliothek (Dawna Bibliotheka Uniwersytecka) und des repräsentativen Palac Kazimierowski mit ein. Es folgte die für Interessierte offene Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte.

Ein Highlight der besonderen Art stellte die halbtägige Exkursion zum psychiatrischen Krankenhaus Tworki in der ländlichen Peripherie Warschaus dar, das seit der Gründung eine der bedeutendsten psychiatrischen Institutionen Polens war und sich aktuell in einem strukturellen Wandel und ausgedehnter Restauration befindet. Nach einer Begrüßung durch den Direktor der 1891 im Pavillon-Stil erbauten Einrichtung folgte ein in die Institutionengeschichte der Anstalt einführender Vortrag der Psychiaterin und ehemaligen Leiterin Maria Paluba. Die Psychiaterin Agata Szulc situierte mit einem Blick auf historische Entwicklungslinien die Psychiatrie im polnischen Gesundheitswesen. Eine patientenzentrierte Perspektive in beiden Beiträgen wäre ergänzend wünschenswert gewesen, ebenso wie ein vertiefter Blick auf den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Ära. Der aktuell mit der historisch behutsamen Sanierung des Komplexes befasste Architekt Piotr Gerber (Wrodaw Technical University) referierte zu den mannigfaltigen Herausforderungen, die sich bei der werterhaltenden Restauration der weitläufigen Institution gegenwärtig ergeben.

Das anschließende Panel legte den Fokus auf den Zweiten Weltkrieg. Katrin Sippel (Vienna) beleuchtete drei Krankenhäuser in Lissabon, das im Zweiten Weltkrieg Transitort oder Endziel für bis zu 80.000 größtenteils jüdische Flüchtlinge war. Anhand von kurzen Biographien von Patient*innen zeigte sie die Bedeutung der Krankenhäuser auf, die durch kulturell-sprachliche Verbundenheit für viele einen wichtigen Zufluchtsort darstellten. Christoph Brezinka (Medical University Innsbruck) kontextualisierte die Verlagerung und Reorganisation der geburtshilflichen Abteilung der Universität Innsbruck in ein Hotel im ländlichen Seefeld. Er berichtete von einem umfangreichen Oral history Projekt mit den dort Geborenen, das ein Gegenpool zu der ansonsten dürftigen Quellenlage bietet. Lea Münch (Charité Berlin) thematisierte das Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten anhand des ärztlichen Personals der Medizinischen Kliniken der Reichsuniversität Straßburg, die Teil eines Strukturwandels im annektierten Elsass waren. Eine soziodemographische Analyse der Patientenakten der Klinik fokussierte auf Zwangsarbeiter*innen als Patient*innen.

Das fünfte Panel behandelte den Schwerpunkt Krankenhäuser in Afrika, (Post-)Kolonialismus und Dekolonisation. Flavius Mokake (Brown School, Washington University St Louis) untersuchte die Rolle der ghettoisierten Lepra-Siedlungen bei der Bekämpfung der Lepra im kolonialen und postkolonialen Kamerun. Dabei standen die spannungsreiche Isolations- und Verwahrungspolitik sowie die Sicht der Patient*innen im Vordergrund. Adesoji Adedipe (University of Kansas) analysierte die Gesundheitsversorgung in Lagos (Nigeria) und Durban (South Africa) bei Epidemien aus komparatistischer Perspektive. Sie charakterisierte dabei die Krankenhäuser als „tools of empire“ und als Institutionen des „othering“. Kathleen Vongsathorn (Southern lllinois University Edwardsville) skizzierte die Geschichte des Kalango Hospital in Northern Uganda von der Gründung durch katholische Missionare bis zu der Krise im militärischen Konflikt mit Tansania. Sie hob dabei das Selbstverständnis der örtlichen Community hervor, die das Krankenhaus als gemeinschaftliches Projekt sieht.

Das sechste Panel hatte lokale und globale Kontexte zum Inhalt. Barry Doyle (University of Huddersfield) sprach über die Entwicklung des Gesundheitswesens in Westafrikanischen Staaten unter der Kolonialherrschaft des Vereinigten Königreichs und Frankreichs im Vergleich. Die beiden hinsichtlich ihres kolonialen Krankenhaus- und Gesundheitswesens unterschiedlich vorgehenden europäischen Großmächte standen mit den Unabhängigkeitsbewegungen in den 1960er Jahren dennoch vor ähnlichen Aufgaben, die Doyle er als Krise und Chance zugleich interpretierte. Elisabeth Bishop (Texas State University) beleuchtete die Interaktionen der nationalen Befreiungsbewegung Algeriens mit Polen in den 1950er Jahren auf der Ebene des Gesundheitswesens, die zu diplomatischer Zusammenarbeit führte. Daraus resultierte eine vielfältige Unterstützung algerischer Medizinstudierender.

Das letzte Panel widmete sich der Nachkriegszeit. Megan Brien (Trinity College, Dublin) referierte über den Bau des irischen Tuberkulose-Sanatoriums Ballyowen. Sie analysierte aus architektonischer und diskursanalytischer Sicht die folgende Transformation in ein psychiatrisches Krankenhaus, die als Reaktion auf eine infrastrukturelle Krise stattfand. Sean Lucey (University College Cork) stellte die weitreichende Reform des nordirischen Gesundheits- und Krankenhauswesens vor, die im Windschatten der „Troubles“ 1972 ihren Ausgang hatte. Die veränderten Machtverhältnisse ermöglichten es, traditionelle Widerstände zu überwinden. Aisha Mashingauta (Stellenbosch University) sprach über die Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Zimbabwe, die in der Kolonialzeit durch die katholische Mission getragen wurde. Nach der Unabhängigkeit eröffnete staatliche Krankenhäuser verloren durch ökonomische Krisen an Bedeutung, sodass die Missionskrankenhäuser gegenwärtig wieder im Vordergrund stehen.

In dem abschließenden Schlusswort richtete Fritz Dross den Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Krankenhaus und Macht, die sich angesichts der Forschungen zum außereuropäischen, kolonialen und postkolonialen Krankenhaus auch für die europäische Krankenhausgeschichte erneut zu stellen lohne. Deutlich wurden Machtverhältnisse aus ökonomischen Strukturen ganz unmittelbar angesichts der Finanzierung von Krankenhäusern und Gesundheitsversorgung, die häufig Ausgangspunkt für krisenhafte Entwicklungen sind und waren. Er verwies auf die teilweise divergierenden oder gar gegensätzlichen Interessen politischer Kräfte wie staatliche bzw. koloniale, religiöse und zivilgesellschaftliche Akteure, die die Zielsetzung und das Selbstverständnis der Krankenhäuser prägten und die Institution selbst veränderten. Außerdem standen Krankenhäuser in einem dynamischen Interaktions- und Adaptionsprozess mit den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen: Sie mussten sich an quantitative und qualitative Veränderungen der zu versorgenden Bevölkerung anpassen, im kriegerischen Konflikten im wörtlichen Sinn mobil sein etc. Die Konferenz versammelte Beiträge zu Krankenhäusern aus über 200 Jahren in vier Kontinenten. Diese globale Perspektive, die sieben Vorträge zu nicht-europäischen Krankenhäusern und der dort praktizierten medizinischen Versorgung mit einschloss, ist bisher in der Krankenhausgeschichte noch nicht erreicht worden. Sie bot einen Ausblick auf die Geschichte des Krankenhauses als zentralen Ort von globaler Gesundheitsversorgung. Insgesamt überzeugte die Konferenz durch ein vielseitiges Programm mit Exkursion, das besonders jungen Forschenden die Möglichkeit zur Präsentation und zum Austausch über Forschungsprojekte bot.

Eine Publikation der Beiträge ist geplant.

Deutsche Gesellschaft für
Krankenhausgeschichte e.V.

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